Wochenimpuls: Wie ich im Jahre 2030 im klimaneutralen Bensheim lebe – von Otto Merkel

19. Dezember 2020 1 Von Katja Knoch

18.12.2020

Ich lebe – falls ich dann noch lebe – mit 82 Jahren mit meiner Frau in einer barrierefreien Wohnung in einem Wohnprojekt. 2022 hatte die Stadt sich entschlossen, ein größeres Grundstück mit einem Gebäude-Ensemble in Erbpacht an eine Gesellschaft zu vergeben, die sich bereiterklärt hat, in Zusammenarbeit mit der Wohnvision Bergstraße ein generationenübergreifendes Wohnprojekt zu realisieren. Als das dann 3 Jahre später grundlegend saniert bezugsfertig war, verkauften wir unser Reihenhaus und zogen dort ein. Das Haus hat Passivhausstandard, eine aufgeständerte Photovoltaikanlage auf dem ansonsten begrünten Dach und an der Südfassade ebenfalls Photovoltaik. Die Heizung besteht aus einer Wärmepumpe mit Erdwärme. Wir haben 3 Zimmer, barrierefrei, das passt für uns. Wenn unsere Kinder kommen, so können sie in der Besucherwohnung des Wohnprojekts wohnen. Das ist toll. Da brauchen wir kein Gästezimmer. Wenn wir wollen, können wir in den Gemeinschaftsraum des Wohnprojekts gehen, wo meistens einige Leute sitzen. Auf Drängen meiner Frau habe ich beim Umzug viele alte Sachen aussortiert und weggeschmissen. Das fiel mir schwer. Jetzt haben wir nur noch einen ganz kleinen Keller. Es gibt eine große Garage für die ganzen Fahrräder. Waschmaschinen stehen im Keller. Unser Auto haben wir schon 2022 abgeschafft, als es mit größeren Reparaturen losging. Zum Glück kann ich noch mit meinem E-Bike fahren. Wenn wir es mal brauchen, holen wir uns beim Carsharing ein E-Auto. Ich bin ja ein ziemlich einsiedlerischer Mensch. Aber mit einigen im Wohnprojekt habe ich mich doch etwas angefreundet. Wir spielen abends manchmal miteinander oder laden uns zum Essen ein oder gucken zusammen Fernsehen.

Inzwischen ist in Bensheim das 4. gemeinschaftliche Wohnprojekt fertig geworden. Es spricht sich rum, welche Vorteile sowas hat und von der Kommunalpolitik werden solche Projekte jetzt soweit möglich unterstützt. In Heppenheim gibt es auch schon 3, in Lorsch 2 und in Zwingenberg 1. Es ist vor allem für ältere Leute gut. Sie brauchen nicht allein oder zu zweit in Häusern zu wohnen, die zu groß sind nach dem Auszug der Kinder. Die Stadt kümmert sich sehr intensiv um ältere Leute, die allein in einem großen Haus wohnen, um ihnen eine passendere Wohnung in der Umgebung anzubieten. Wenn sie sich zu einem Umzug entscheiden, wird auch wieder Platz frei für junge Familien, ohne dass man neu bauen muss. Das schont die Ressourcen und den CO2-Ausstoß, denn die Zementproduktion ist noch lange nicht vollständig klimaneutral.

Wir wohnen so, dass ich mit dem Fahrrad oder auch zu Fuß (gerade so) in die Stadt gehen kann.

Wir holen immer noch einen Großteil von unserem Gemüse und Salat bei der Solidarischen Landwirtschaft (Solawi) Hoxhohl. Inzwischen gibt es 5 Solawis, die nach Bensheim liefern, 3 aus dem Ried und 2 aus dem Odenwald. Alles Biogemüse. Auch auf dem Markt gibt es Biogemüse aus der Region. Und auch die großen Supermärkte haben sich umgestellt und verkaufen viel mehr Bio-Gemüse aus der Region. Sie mussten das machen, weil die Leute es einfach wollten. Die nehmen jetzt auch den organisatorischen Aufwand in Kauf, von kleinen Produzenten kleine Mengen aufzukaufen. Man kriegt auch nicht immer alles. Die Leute haben sich tatsächlich mehr an saisonale Angebote gewöhnt. Aber es gibt auch technisch raffinierte Gewächshäuser in der Gegend, z.B. in Bürstadt, die mit Sonnenenergie und Erdwärme völlig klimaneutral funktionieren und dazu noch Fische züchten. Das gab es früher nicht!

Angeregt durch den Ernährungsrat, der 2021 gegründet wurde, um die Ernährung insgesamt und speziell auch in Mensen und Kantinen mehr auf regionale und ökologische Produkte umzustellen, kam 2022 ein interessantes Projekt in Gang. Die Kita in der Eifelstraße, bei der es auch damals schon ein Drop-in gab, beschloss, selber zu kochen. In Kooperation mit dem Jobcenter wurde alleinerziehenden Frauen eine Schulung und teilweise auch Arbeitsmöglichkeiten angeboten, um zu lernen, wie man auch mit wenig Geld gesund und ökologisch kocht. Diese Kurse wurden in die Küche der Kita integriert. Die Kübel-Stiftung hat das Projekt evaluiert und es ergaben sich vielfältige positive Effekte hinsichtlich Gesundheit von Kindern und Eltern, verbessertem Zusammenleben und Lebenszufriedenheit. Die Kübel-Stiftung hat daraufhin beschlossen, ihre Drop-ins auch andernorts, wenn möglich mit solchen Projekten zu verknüpfen.

Wenn man in die Stadt läuft, so ist das heutzutage viel bequemer und sicherer. Die Autos sind fast alle ganz leise, weil elektrisch, es gibt auch viel weniger davon und sie fahren viel langsamer. Viele Gehwege sind breiter und die Radfahrer haben abgetrennte Fahrradwege, breit und glatt. Sie sind auch nicht mehr zugeparkt. Wer ein Auto sieht, das falsch parkt, zückt sein Handy, macht ein Foto und schickt es der Polizei. Dann gibt es einen Knollen. So wurde erreicht, dass die Fahrrad- und Gehwege nicht mehr zugeparkt sind. Das haben sie 2024 eingeführt.

Das Neumarktcenter, das früher aus Spekulationsgründen überwiegend leer stand, heißt jetzt „Längerleben-Centrum“. Da ist immer viel los. Es gibt eine Fahrradreparaturwerkstatt, da kann man sein eigenes Fahrrad reparieren und bekommt auch geholfen, wenn man es nicht alleine kann. Da sind besonders viele junge Leute und auch in dem „Elektronikschuppen“. Dort werden Handys und was es so alles gibt repariert, soweit möglich und man kann gebrauchte Sachen loswerden und auch kaufen. Auch kleinere Elektrogeräte. Daneben ist ein Verleih-Büro, in dem man auf Zetteln massenweise Hinweise findet, wo und bei wem man welches Gerät mal ausleihen kann und da sitzt auch jemand, die das managt. Aber alles findet man auch im Internet. In das Centrum gehen nur die hin, die mit dem Internet noch immer nicht zurechtkommen.

Daneben gibt es einen „Umsonst-Laden“, da kann man stöbern und Sachen umsonst mitnehmen, aber auch Sachen abgeben. Aber da passt schon jemand auf, dass die Leute nicht nur irgendwelchen Schrott abgeben. Elektronikschrott kann man gleich daneben abgeben, also kleine Sachen, die man locker tragen kann. Der Unterschied zu früher ist, dass Leute da sind, die die Sachen untersuchen, ob man sie noch reparieren kann. Wenn das geht, wird das gemacht und sie werden wiederverkauft.

Im Obergeschoß gibt es Räume für Yoga, Qigong, Gymnastik, Singen, auch Lach-Yoga und ähnliches, denn das hilft auch zum „Längerleben“. Die Stadtbibliothek ist auch noch im Gebäude. Das passt gut zusammen.

Das Ganze wird von der Stadt unterstützt. Es gibt auch feste Vereinbarungen mit Handwerkern, die spezielle und schwierigere Reparaturen übernehmen.

Pakete werden in Bensheim übrigens nur noch von einem Lieferdienst mit großen Lasten-E-Bikes ausgeliefert. Die Lieferdienste haben sich zusammengeschlossen, das für den letzten Kilometer so zu organisieren. Dazu gab es 2023 ein Gesetz, in dem das geregelt wurde. Damals sind sie zum Glück von dem Schwachsinn weggekommen, als ob nur die Konkurrenz Kundenfreundlichkeit und Innovationen bringen würde, auch wenn dann 4 Lieferdienste im selben Viertel rumkurven, die Luft verpesten und unnötig viele Leute da gestresst und unterbezahlt rumfahren.

Seit die EU-Regeln für Autos 2024 geändert wurden, gab es ab 2027 keine neuen SUV’s und keine neuen Verbrenner mehr. Die neuen E-Autos sind meist viel kleiner. Aber es gibt auch größere, für große Familien oder alle möglichen besonderen Zwecke. Immer mehr Leute nutzen Carsharing.

In der Taunusanlage entstand 2022 das erste „Urban Gardening-Projekt“. Da gab es eine Projektgruppe, die Druck gemacht hat und dann wurde es kommunalpolitisch aufgegriffen. Das war nicht so einfach, bis die Leute begriffen, dass sie sich auch an Regeln halten mussten. Das Gelände hat einen Zaun, damit keine Hunde reinrennen. Und es gibt eine Beaufsichtigung von Anwohnern, die sich abwechseln und die Leute kennen. Die sorgen dafür, dass nur Anwohner dort ernten und auch nur in Maßen. Und dass auch immer genügend Leute bereit sind, dort im Garten zu arbeiten, die Saatbeete gekennzeichnet sind usw. Einige Male gab es bösen Ärger und Rückschlage, fast wollte man es aufgeben, aber seit etwa 3 Jahren funktioniert es sehr gut.

Um leidige Auseinandersetzungen wie um den Marktplatz damals um 2020 rum in Zukunft in eine gute demokratische Form zu bringen, beschloss die Stadtverordnetenversammlung im Herbst 2021 ein erweitertes Bürgerbeteiligungsverfahren nach dem Prinzip des systemischen Konsensierens. Das Bürgernetzwerk bekam dadurch eine neue, befriedigendere Aufgabe. Wenn mindestens 100 Unterschriften von Bürger*innen für ein bestimmtes Anliegen vorliegen, organisiert das Bürgernetzwerk 5 aufeinanderfolgende öffentliche Workshops, bei denen auch Fachleute zu dem Thema hinzugezogen werden und die beteiligten Bürger*innen zwei oder mehrere gut fundierte Alternativen zu dem ursprünglichen Anliegen ausarbeiten. Diese Alternativen werden dann in einem neu konzipierten Bürgerentscheid allen Bürger*innen zur Abstimmung vorgelegt. Die Bürger*innen werden nicht um ihre Zustimmung gefragt, sondern drücken bei dieser Wahl das Ausmaß ihrer Ablehnung gegenüber jeder der Alternativen aus, indem sie eine Zahl von 0 bis 10 vergeben. Keinerlei Unzufriedenheit erhält die Zahl 0, extreme Unzufriedenheit 10. Man wählt also eine Zahl zwischen 0 und 10 für jede Alternative, um das Ausmaß seiner Unzufriedenheit oder Ablehnung auszudrücken. Die Punktzahlen werden zusammengezählt und die Alternative mit den wenigsten Punkten sollte genommen werden. Dieses Ergebnis wird dann mit den üblichen demokratischen Verfahren weiter behandelt. Die Sache ist zwar sehr aufwendig, aber der Vorteil ist, dass damit eine Lösung herausgefunden werden kann, gegen die es den wenigsten Widerstand in der Bevölkerung gibt.

Dieses Verfahren wurde dann erstmals 2022 für die Gestaltung des Marktplatzes durchgeführt. Drei Alternativen wurden herausgearbeitet und auf die genannte Art zur Abstimmung gestellt. Das Ergebnis war sehr überraschend und es dauerte eine Zeitlang. Aber dann stellte sich eine große Zufriedenheit ein.

Das beschriebene Verfahren hat eigentlich nichts mit Klimaschutz zu tun, aber große Entscheidungen, die ja für den Klimaschutz nötig waren, konnten damit sehr gut vorbereitet werden, so dass dann danach auch die Zufriedenheit sehr groß war. Es ergab sich bald ein Problem, bei dem diese Methode angewandt wurde. Es entwickelte sich nämlich eine heftige Auseinandersetzung um die Umgestaltung des Beauner Platzes. Vor allem war umstritten, ob der Winkelbach hier wieder freigelegt werden sollte. Man griff auf das genannte aufwendige Bürgerbeteiligungsverfahren zurück und das Ergebnis war, dass die Freilegung am wenigsten störte. So wurde dann das dann auch realisiert. Erst 2028 wurde dieses Vorhaben beendet und jetzt haben wir eine schöne Grünanlage und ein verbessertes Kleinklima.

Letzt war ich mal auf dem ehemaligen Güterbahnhofgelände, wo Edeka, Aldi, DM, Alnatura und andere immer noch sind. Es sieht dort aber jetzt ganz anders aus. Die Märkte wurden aufgestockt, da wohnen jetzt Leute oben drüber. Die Parkplätze wurden verkleinert und auch mit Wohnungen überbaut und überall auf den Dächern wurden große Photovoltaikanlagen angebracht. Dazwischen gibt es einen kleinen Park mit Spielplatz. Das Gelände ist schon massiv bebaut, aber aufgelockert und begrünt. An einigen Fassaden stehen Bäume auf den Balkonen, fast wie ein senkrechter Wald!

Wenn man vom Kirchberg auf die Stadt runterguckt, fallen einem sofort die Solaranlagen auf ganz vielen Häusern auf. Der Bundestag hatte unter der damals neuen Regierung 2022 das EEG-Gesetz deutlich verändert. Das vorherige war ja noch unter der alten großen Koalition Ende 2020 beschlossen worden. Vor allem hatte man einen Haufen bürokratische Fesseln rausgeschmissen. So entstand ein richtiger Boom, Solaranlagen auf die Dächer zu bauen. Der Boom ist immer noch nicht ganz abgeebbt. Durch die technischen Weiterentwicklungen finden sie immer neue Möglichkeiten für Solaranlagen. Sie werden jetzt vermehrt auch an Fassaden angebracht, die Busse und auch PKW tragen Solaranlagen. Als letztes Jahr ein Teil des Berliner Ring neu asphaltiert wurde, haben sie als Pilotprojekt Solarmodule in die Fahrbahndecke eingebaut. Das hätte man früher nicht für möglich gehalten!

Die Stadt hat seit Jahren keine neuen Gewerbegebiete mehr ausgewiesen, auch keine neuen Wohngebiete außerhalb. Der Sanner-Umzug war die letzte Erweiterung. Das war ja auch höchste Zeit, mit der Zubetonierung der Landschaft aufzuhören!

Die Stadt fährt seit 3 Jahren eine Kampagne, dass diejenigen, die sehr viel Wohnraum in Anspruch nehmen, auf einen Teil ihres Wohnraums verzichten. Diese Kampagne ist sehr umstritten und das Ganze ist auch sehr schwierig. Es ist klar, dass die Menschen natürlich an ihren Häusern hängen! Und auch wenn Menschen bereit sind, in eine kleinere Wohnung zu ziehen, kann man eine luxuriöse Villa auch nicht ohne größeren Umbau einfach an 2 oder 3 Familien vermieten. Man muss bei der Kampagne langsam und stetig vorgehen. Man möchte ja, dass möglichst alle auch mit den nötigen Veränderungen zurechtkommen.

Auf dem alten Sannergelände haben sie übrigens ein schönes Wohngebiet eingerichtet, ohne Autos, mit viel Grün und Photovoltaik, eine gemeinschaftliche Wärme- und Kälteanlage mit zentralem Wasserspeicher. Bei der Hitze im Sommer heutzutage ist es wirklich nötig, auch im Sommer zu temperieren. Man kann dann kaum noch rausgehen, wenn es so heiß ist.

Der neueste Hit, seit 6 Monaten in Betrieb, ist der autonom fahrende Citybus. Dieser Kleinbus fährt im Schritttempo in einem Rundkurs vom Marktplatz die Hauptstraße runter bis zum Hospitalplatz, biegt dann in die Gerbergasse, Promenadenstraße, hinterm Bürgerhaus die Dalbergergasse hoch zur Hauptstraße und rechts runter wieder zum Marktplatz. Wer mitfahren will, winkt in einer bestimmten Weise und der Bus hält. Damit die Passanten den ganz leise fahrenden Bus beachten, spielt er leise die Lieder von dem Glockenspiel ab, das 2020 in der Georgskirche eingebaut worden ist. Deshalb wird der Bus auch „Der kleine Schorsch“ genannt und der Schorschblick ist seitdem umfassend gewährleistet.